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Treffen der Fokusgruppe im Kloster Oberzell

Zur Zeit passiert richtig viel – wo soll man da anfangen? Zur Not probier ich's einfach chronologisch. Fangen wir mit einem weiteren off-topic-Beitrag an:

(M)Ein Erfahrungsbericht vom Treffen der Fokusgruppe 2018 im Kloster Oberzell in Zell am Main

 

Nachdem ich relativ kurzfristig vom Treffen erfahren hatte, kam ich am Samstag dort an. Im Vergleich zum letzten Jahr sollte ich nicht nur ein paar Fotos schießen, sondern zusammen mit Martin Neisser die Bundesvereinigung Stottern & Selbsthilfe vertreten. Leider hatten wir – die Stotternden – nur am Samstag Zeit, und mussten feststellen, dass die fleißige Gruppe schon komplett versammelt war und auch schon vorzeitig mit der (erneuten) Vorstellungsrunde angefangen hatte. In der Runde erblickte ich – bis auf das Kamerateam von bernsteinfilm.de – nur vertraute Gesichter von Menschen, die ich im letzten Jahr beim ersten Fokustreffen kennengelernt hatte. 

  

Hä, Fokustreffen? Was ist das eigentlich?

Auf diesem Arbeitstreffen begegnen sich nun zum wiederholten Male aktive Mitglieder von drei unterschiedlichen Selbsthilfe-Verbänden, die alle mehr oder weniger mit Sprech- oder Sprachproblemen zu tun haben. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Erschließung und Nutzung von Synergie-Effekten bei der Beschäftigung mit Sprechen und Sprache und natürlich auf der Öffentlichkeitsarbeit. Bei den drei Verbänden handelt es sich um die Selbsthilfe-Verbände mit den häufigsten Sprach- und Sprechstörungen:   

Bundesverband Aphasie e.V.

Selbsthilfevereinigung für Lippen-Gaumen-Fehlbildungen (Wolfgang Rosenthal Gesellschaft)

Bundesvereinigung Stottern & Selbsthilfe e.V.

  

Ein passender Name für die gemeinsame Fokusgruppe wurde auch bereits gefunden: 

  

Sprechfreude³

  

Hmmm, Stottern – kenn ich, Lippen-Kiefer-Gaumenspalte – hab ich schon einmal gesehen, aber was ist Aphasie??

  

Aphasie (griechisch 'Sprachlosigkeit') nennt man eine erworbene Sprachstörung, die immer auf eine erfolgte Schädigung von Teilen des Gehirns zurückzuführen ist. Sie tritt nach dem abgeschlossenem Spracherwerb auf und wird zumeist von einem Schlaganfall, einem Schädel-Hirn-Trauma oder einer Gehirnblutung verursacht. Eine Aphasie beeinträchtigt immer alles, was mit Sprache zu tun hat – also das Lesen und Schreiben, das Verstehen aber auch das aktive Sprechen. 

  

Was hatte die Sprechfreude³-Gruppe beim Fokustreffen im letzten Jahr eigentlich erarbeitet?

In der gemeinsamen Gruppenarbeit (die Stotternden waren leitend vertreten durch Martin Seefeld, LV Baden-Württemberg), die allen viel Spaß gemacht hatte, wurden Gemeinsamkeiten und Unterschiede der drei Störungsbilder sauber herausgearbeitet und festgehalten. Wir stellten fest, dass es dabei überraschende Parallelen aber auch krasse Unterschiede gibt: So ist z.B. 'die Spalte'(, wie die Mitglieder der Lippen-Gaumen-Fehlbildungen-Gruppe dazu sagen,) angeboren, beim Stottern sind nur Teile der bedingenden Faktoren im Gehirn angeboren, wobei die Störung meist im Kindesalter offenbar wird. Im Gegensatz dazu tritt bei Aphasikern (offiziell sagt man wohl besser 'Menschen mit Aphasie') die Sprach-/Sprechstörung wie ein Blitz in ihr Leben und verändert das Leben eines gesunden Menschen nachhaltig – und es sind nicht nur alte Menschen betroffen. Als greifbares Ergebnis des Treffens wurden sechs unterschiedliche Postkarten-Motive entworfen, die jeweils auf der Bildseite einen Spruch zeigen, welcher immer mit Sprache/Sprechen zu tun hat. Auf der Rückseite der Karten sieht man neben dem Anschriften- und Briefmarkenfeld die drei Logos, Namen und URLs der drei Verbände. Hier die fünf (!) verwendeten Sprüche zu den sechs Bildern: 

  • Reden ist Schweigen, Silber ist Gold  (Bild: Froschkönig) 

  • nicht auf den Mund gefallen  (Bild: Piktogramm eines nach hinten fallenden Menschen) 

  • RAUS mit der Sprache!  (Bild 1: Piktogramm einer Schere, Bild 2: Schattenriss eines Agenten mit einer Schere) 

  • komm, komm, Kommunikation  (Bild: Sprechblase) 

  • Mut zur LÜCKE  (Bild: Käse mit Löchern)   

Die Postkarten sehen wertig und flott aus und sollen in der Öffentlichkeitsarbeit verwendet werden. 

  

Was hat Sprechfreude³ bei diesem Treffen geschafft?

Dieses Jahr war der Plan, dass mehrere Kurzfilme entstehen sollten, die zur Öffentlichkeitsarbeit verwendet werden können. Die Idee dahinter: Der erste Film soll mit Vorurteilen zu tun haben. Alle drei Teilnehmergruppen sind mit zum Teil gleich gelagerten Vorurteilen konfrontiert. In der ersten Phase ging es darum, alle bekannten Vorurteile aufzuschreiben. So etwas wie 'Die spricht aber komisch!' oder 'Auf den Kopf gefallen?' oder 'Der Ärmste – also ich könnte das ja nicht…'. Dazwischen war sogar noch irgendwie Zeit für die Besichtigung der Klosterkirche St.Michael und des Balthasar-Neumann-Treppenhaus! Danach erarbeiteten wir das Skript des ersten Films: eine Gruppenszene, die die Vorurteile (und damit die implizite Boshaftigkeit) der Gesellschaft gegenüber eines herausgehobenen Betroffenen darstellt und am Ende mit der offensiv gezeigten Gesprächsbereitschaft des direkt Betroffenen überrascht. Das professionelle Filmteam rund um Michael Bernstein war tatsächlich in der Lage, unsere Vorstellungen sofort in sichtbare und ansprechende Realität umzusetzen. Natürlich haben wir am Wochenende im Kloster nur den Ton einsprechen und das Rohmaterial aufnehmen können. Erst in der Post-Production und im Schnitt wird daraus ein (hoffentlich vorzeigbarer) Film entstehen. Mit Videodrehs hat die Stotterer-Selbsthilfegruppe Würzburg ja schon eigene Gehversuche unternommen: Wir haben im Rahmen unserer Kooperation mit der Berufsfachschule für Logopädie Würzburg gleich mehrere Streifen zum Thema Stottern & Selbsthilfe gedreht; so richtig mit Drehbuch und so. Für die SHG-Würzburg-Insider unter uns: Ich sag nur 'Apothekenszene'… 

Im Anschluss wurde noch einen zweiten Spot erarbeitet, bei welchem wir die Sprüche der Postkarten aus dem letzten Jahr (s.o.) mit unseren eigenen Sprechweisen vertont haben – alle Beteiligten haben alle Sprüche eingesprochen! Hierbei hat Martin Neisser mit seinem sauber und ausführlich ausgeführten Pseudostottern uns alle nachhaltig beeindruckt – Gänsehaut pur! Zu sehen gibt es (nur) die Postkarten, wie sie von links und rechts in den Sichtbereich der Kamera geworfen werden, was auch nicht einfach ist, wenn man genaue Vorstellung hat, wie es erfolgen muss. 

Die gemeinsame Arbeit mit den anderen Verbände bringt oft mehr als das Köcheln im eigenen Sud: Es erweitert den Horizont; jeder profitiert von den Lösungen der anderen Verbände und neue Querverbindungen werden geknüpft. Außerdem haben wir festgestellt, dass wir alle einen eigenen Sinn für Humor haben. Wir als Stotternde sind es ja gewohnt, unsere Lage vor allem mit Humor zu begreifen: Hu-Hu-hu-HHHHHumor ist ja, wenn mmmm-m–mm———ich trotzdem lllllllacht (;-)

Am Abend schauten wir uns noch ein paar schon fertige Filmchen unserer Verbände an. Die Mädels vom BV Aphasie präsentierten uns ihren Film 'Bewegung bringt’s – der neue Informations- und Aufklärungsfilm' (übrigens auch von bernsteinfilm.de). Und wir hielten mit unserem Hardcore-Klassiker 'Sprachlos' (2004 gedreht von Michael Kofort, SHG Münster) dagegen; hardcore ist der Film deshalb, weil die gezeigte Situation im Leben eines stotternden Menschen dramatisch überspitzt dargestellt wird – ein Stilmittel, durch welches der Film erst so richtig wirkt! 

Wir sind schon auf die neuen Kurzfilme gespannt aber da werden wir noch ein paar Wochen warten müssen… 

  

Ach ja, der neue Termin für das nächste Treffen der Sprechfreude³-Gruppe steht schon fest: 1. Februar bis 3. Februar 2019 im Tagungshaus Klara/Kloster Oberzell. Hier gibt es auch ein paar Fotos zu sehen (die Gruppenfotos hat Marina vom Film-Team aufgenommen, für den Rest zeichne ich verantwortlich…). Die Aphasiker haben auch eine What’s app-Gruppe eingerichtet (wer da rein will, meldet sich bei mir, ich leite das dann an Dagmar Amslinger weiter). Also, ich freue mich schon auf das nächste Jahr! 

  

Michael Braun. 

 

PS. 

Dank an die fleißigen KorrekturleserInnen Dagmar Amslinger und Martin Seefeld (;-) 

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